Stell dir eine Million kleiner Lebewesen entlang eines Quellbachs vor. Wenn du ein Riese wärst und auf seine Windungen und Kurven herabschauen könntest, wüsstest du, dass der Quellbach ein Strom des Lebens ist.
Der Riese war ich. Über zwei Fuss hoch hockte ich, einem Riesen gleich, über den kleinen Tümpeln, wo Rinnsale des Stromes in Strudeln versickerten. Frösche laichten, grosse Kristallkugeln aus Gelee, durchsetzt von Kaulquappen, die darauf warteten, sich ihren Weg nach draussen zu fressen.
Dem Bachlauf folgend fand ich den Geheimplatz. Er lag ein Stück den Berghang hoch und war mit Lorbeer umsäumt. Er war nicht sehr gross, eine Graskuppe mit einem alten, nach unten gebogenen Eukalyptusbaum. Als ich ihn sah, wusste ich, das war mein Geheimversteck, und so ging ich oft dorthin. Er gefiel auch der alten Maud, und sie kam gern mit. Wir sassen dann unter dem Eukalyptus dort und lauschten - und beobachteten. In dem Geheimversteck machte die alte Maud nie ein Geräusch. Sie wusste, es war geheim.
Einmal spät am Nachmittag sassen wir, die alte Maud und ich, mit dem Rücken an den Eukalyptus gelehnt und schauten, als ich in der Nähe etwas erblickte. Das war Granma. Sie ging nicht weit von uns vorbei. Aber ich vermutete, sie hatte meinen Geheimplatz überhaupt nicht gesehen, sonst hätte sie etwas gesagt. Granma konnte sich leiser bewegen als ein Flüstern im Waldlaub. Ich folgte ihr. Sie sammelte Wurzeln. Ich kam ihr zu Hilfe, und Granma und ich setzten uns auf einen Baumstamm, um die Wurzeln auszulesen. Ich glaube, ich war zu jung, um ein Geheimnis zu behalten, denn ich musste Granma von meinem Versteck erzählen. Sie war nicht überrascht - was wiederum mich überraschte.
Granma sagte, alle Cherokee hätten einen Geheimplatz. Sie erzählte mir, dass sie einen hatte und Granpa einen hatte. Sie hatte ihn nie gefragt, aber sie glaubte, dass seiner oben auf dem Berg sei, auf dem Kammweg. Sie vermutete, dass so ziemlich jeder einen Geheimplatz habe, aber sie könne sich nicht sicher sein, da sie nie danach frage. Granma sagte, das wäre nötig. Da war ich mächtig froh, dass ich nun auch einen hatte.
Jeder Mensch hat zwei Geister, sagte Granma. Einer der Geister hat mit den Bedürfnissen des Körperdaseins zu tun. Du musst ihn gebrauchen, um Schutz und Essen und so weiter für deinen Körper zu bekommen. Sie sagte, du musst ihn gebrauchen für die Partnerwahl und um Kinder zu haben und solche Sachen. Wir müssten diesen Geist haben, sagte Granma, damit wir weitermachen könnten. Aber wir haben noch einen anderen Geist, der mit all dem nichts zu tun hat. Sie sagte, das sei der Geist-Geist.
Wenn du den Körpergeist benutzt, um gierig oder gemein zu denken, wenn du die Leute damit verletzt und ausrechnest, wie du sie materiell übervorteilst, dann würde dein Geist-Geist auf die Grösse einer Walnuss zusammenschrumpfen. Wenn dein Körper stirbt, sagte Granma, stirbt auch der Körpergeist mit ihm, und wenn das die Art ist, wie du dein Leben lang gedacht hast, dann stehst du da mit einem Geist so klein wie eine Walnuss, weil der Geist-Geist alles ist, was weiterlebt, wenn alles andere stirbt.
Dann, sagte Granma, wenn du neu geboren wirst - was geschehen muss - dann stehst du da, wirst geboren mit einem Geist-Geist so klein wie eine Walnuss, der praktisch überhaupt kein Verständnis von irgendetwas hat.
Womöglich würde er dann auf die Grösse einer Erbse zusammenschrumpfen und könnte sogar verschwinden, wenn der Körpergeist alles in die Hand nahm. In diesem Fall würdest du deinen Geist ganz verlieren.
So wird man zu einem toten Menschen. Granma sagte, tote Leute sind leicht zu erkennen. Wenn tote Leute eine Frau sehen, sehen sie nur Schmutz; wenn sie andere Leute sehen, nichts als Schlechtigkeit; wenn sie einen Baum sehen, nichts als Bauholz und Profit; nie Schönheit. Das seien wandelnde Tote, sagte Granma. Der Geist-Geist, sagte Granma, ist wie jeder andere Muskel. Wenn du ihn benutzt, wird er grösser und stärker. Die einzige Art, sagte sie, wie es diesen Weg nehmen kann, ist, ihn zum Verstehen zu benutzen, aber diese Tür kannst du nicht öffnen, bevor du nicht aufhörst, mit deinem Körpergeist so gierig zu sein.
Dann beginnt das Verstehen Fuss zu fassen, und je mehr du dich um Verstehen bemühst, umso grösser wird es.
Natürlich, sagte sie, sind Verstehen und Liebe ein und dasselbe. Ausser die Leute haben es zu häufig hinterrücks versucht, indem sie so tun, als ob sie Dinge liebten, wenn sie sie nicht verstehen. Was nicht geht.
Da wollte ich anfangen, praktisch jeden zu verstehen, denn ganz bestimmt wollte ich nicht mit einem Walnussgeist wiederkommen.
Dein Geist-Geist kann so gross und stark werden, sagte Granma, dass du schliesslich alles über deine vergangenen Körperleben weißt und dahin kommen wirst, wo es überhaupt keinen Körpertod mehr gibt.
Von meinem Geheimplatz aus, sagte Granma, könne ich beobachten, wie das funktioniert. Im Frühling, wenn alles geboren wird (und immer, wenn etwas geboren wird, sogar eine Idee), gibt es Kampf und Streit. Da gibt's die Frühlingsstürme, so wie ein Baby aus Blut und Schmerz geboren wird. Granma sagte, das seien die Geister, die ein Theater veranstalteten, weil sie wieder in materielle Formen zurückmüssen.
Dann gibt es den Sommer - unser erwachsenes Leben - und den Herbst, wenn wir älter werden und dieses sonderbare Gefühl im Geiste hegen, wir seien der Zeit hinterher. Manche Leute nennen das Nostalgie und Traurigkeit. Der Winter, wo alles tot ist oder tot scheint, ist so wie unsere Körper, wenn sie sterben, aber wieder neu geboren werden wie der Frühling. Granma sagte, die Cherokee wussten das und hatten das vor langer Zeit gelernt.
Eines Tages würde ich wissen, sagte Granma, dass der alte duftende Eukalyptusbaum an meinem Geheimplatz auch einen Geist hätte. Keinen Geist wie die Menschen, sondern einen Baumgeist. Das hatte sie alles von ihrem Pa gelernt, sagte sie.
Granmas Pa wurde Brauner Habicht genannt. Sein Verstehen war sehr tief gewesen. Er konnte die Baumgedanken fühlen. Einmal, sagte sie, als sie ein kleines Mädchen war, machte ihr Pa sich Sorgen, weil die weissen Eichen auf dem Berg in ihrer Nähe in Angst und Aufregung seien. Er verbrachte viel Zeit auf dem Berg und lief zwischen den Eichen umher. Sie waren von grosser Schönheit, hochgewachsen und gerade. Sie waren nicht selbstsüchtig, gaben dem Boden Raum für Sumach und Persimon, auch Walnuss und Kastanie für die Wildtiere. Da sie nicht selbstsüchtig waren, hatten sie viel Geist und ihr Geist war stark.
Ihr Pa machte sich so grosse Sorgen um die Eichen, sagte Granma, dass er sogar des Nachts zwischen ihnen einherging, denn er wusste, dass etwas nicht stimmte.
Dann eines Morgens, als die Sonne über den Bergkamm brach, beobachtete Brauner Habicht, wie die Holzfäller durch den Weisseichenwald zogen und markierten und planten, wie sie die Bäume fällen wollten. Als sie gegangen waren, sagte Brauner Habicht, begannen die Eichen zu weinen. Und er konnte nicht schlafen. So beobachtete er die Holzfäller. Sie bauten eine Strasse zum Berg, auf der sie ihre Wagen bringen konnten.
Ihr Pa redete mit den Cherokee, sagte Granma, und sie beschlossen, die Eichen zu retten. In der Nacht, als die Holzfäller zu ihrer Siedlung zurückgekehrt waren, gruben die Cherokee die Strasse auf und hackten grosse Gräben quer hindurch. Frauen und Kinder halfen mit.
Am nächsten Morgen kamen die Holzfäller wieder und brachten den ganzen Tag damit zu, die Strasse zu reparieren. Doch in der Nacht gruben die Cherokee sie wieder auf. Das ging zwei oder drei Tage und Nächte so weiter. Dann stellten die Holzfäller Wachen mit Gewehren an der Strasse auf. Aber da sie nicht die ganze Strasse bewachen konnten, gruben die Cherokee die Gräben dort, wo sie konnten. Es war ein harter Kampf, sagte Granma, der sie sehr erschöpfte. Dann eines Tages, als die Holzfäller an der Strasse arbeiteten, stürzte eine riesige Eiche über einen Wagen. Sie tötete zwei Maultiere und zerquetschte den Wagen. Es war eine gute, gesunde Eiche gewesen, sagte sie, die keinen Grund hatte, umzufallen. Aber trotzdem geschah es.
Da gaben die Holzfäller den Versuch auf, die Strasse zu bauen. Der Frühjahrsregen setzte ein - und sie kamen nie mehr wieder.
Als der Mond dann voll war, sagte Granma, hielten sie in dem grossen Eichenwald ein Fest. Sie tanzten beim vollen gelben Mond, und die weissen Eichen sangen und berührten einander in den Zweigen und berührten die Cherokee. Granma sagte, sie sangen ein Totenlied für die weisse Eiche, die ihr Leben für die Rettung der anderen gegeben hatte. Das Gefühl war so stark, sagte sie, es trug sie fast vom Berg weg. "Kleiner Baum", sagte sie, "diese Dinge darfst du nicht erzählen, denn es wird nicht helfen, sie der Welt zu verraten, die dem weissen Mann gehört. Aber du musst es wissen. Deshalb habe ich es dir erzählt."
Von da an wusste ich, warum wir nur die Scheite benutzen, die der Geist für unsere Feuerstelle hatte liegen lassen. Ich verstand das Leben des Waldes - und der Berge. Ihr Pa hatte so grosses Verstehen, sagte sie, sie wusste, er würde stark sein - in seinem nächsten Körperleben, da würde er wissen. Sie hoffte, sagte sie, dass sie auch bad stark würde, dann würde sie ihn erkennen, und ihre Geister würden wissen.
Granpa kam dem Verstehen näher, ohne es zu bemerken, sagte Granma, und sie würden immer zusammen sein, ihre Geister würden wissen.
Ich fragte Granma, ob sie annahm, dass ich so werden könnte, damit ich nicht zurückbleiben müsse.
Sie nahm mich an der Hand. Wir gingen eine lange Strecke den Pfad hinunter, bevor sie antwortete. Versuche immer zu verstehen, sagte sie zu mir. Ich würde auch dorthin kommen, und ich könnte ihr sogar voraus sein.
Um nichts in der Welt wollte ich voraus sein, sagte ich, mir würde es schon völlig reichen, wenn ich mithalten könne. Es wäre so einsam, immer zurückzubleiben.