Leitlinien Integrativer Paartherapie
Prolog:
Das Paar A kommt versteinert und unzufrieden in die Sitzung. Er ist der ruhige und tendenziell introvertierte Persönlichkeitstyp, sie der sprunghafte und leidenschaftliche. Nach einer Anlaufszeit sprudelt es aus ihr hervor: sie bekomme einfach zu wenig Sex in der Beziehung, möchte auch mal verführt werden von ihm und Spiele einflechten. Er sei passiv und nicht leidenschaftlich. Er antwortet darauf, er empfinde eine Blockierung seiner Sexualität, aber er bevorzuge nun einmal die feine Art im Sex, er sei kein Macho. Beide entschliessen sich, an diesem Thema zu arbeiten und die beiderseitigen Anteile einzubeziehen. Er möchte heute bei sich beginnen.
Ich schlage ihm vor, die Augen zu schliessen: „Stellen Sie sich vor, Sie sind fertig mit Arbeiten, können nun nach Hause gehen, die Kinder sind noch nicht da, und jetzt spüren Sie Lust auf ihre Frau. Zuhause werden Sie ihr vielleicht die Kleider vom Leib reissen, und sie aufs Bett schmeissen wie sie es so liebt (sie lacht).“ Er fühlt sich verkrampft, hat Angst, leiblich nimmt er eine Zuschnürung im Hals und einen Druck auf der Brust wahr, den Genitalbereich kann er nicht spüren, er empfinde ihn wie nicht existent. Er könne sich nicht öffnen für eine solche Vorstellung.
Ausgehend von der Achtsamkeit auf dieses leibliche Erleben und das Atmen führe ich ihn in seiner Lebensgeschichte zurück (Petzold 1999i). Er erlebt sich dann als kleiner Knabe und sieht eine Szene vor dem inneren Auge, in der er mit 4 Jahren in der Badewanne sitzt. Die Mutter schrubbt in grober Weise seinen Penis, um auf ärztlichen Rat hin die Phimose zu erweitern. Weitere Bilder der Mutter tauchen auf, in denen er sie als hart, repressiv und lieblos erlebt. Ihre Botschaft fasst er in den Worten zusammen: „Das Sexuelle ist unsauber, das darfst Du nicht tun, erst recht nicht geniessen. Du sollst kein erwachsener Mann werden mit diesen Trieben.“ Die einengenden Körperempfindungen erlebt er noch stärker, das Atmen fällt ihm schwer, Angst und Wut ringen in ihm. Nun bitte ich seine Frau, sich zu ihm zu setzen, mit ihren Händen den Druck auf Brust und Hals, den er empfindet, dosiert zu betonen und die Worte der Mutter zu wiederholen. Eine mögliche Übertragung soll explizit werden, um sich verändern zu können. Sie beginnt und bricht bei den ersten strengen Worten in schallendes befreiendes Gelächter aus, das ihn ansteckt, so dass es beide schüttelt vor Lachen. Er öffnet dabei die Augen und schaut sie an. Ich lobe beide für ihr Lachen. „Wie erleben Sie ihre Frau jetzt? Ist sie so wie Ihre Mutter?“ Nun erfasst er erleichtert einen Unterschied. Dann stellt er sich Hand in Hand mit seiner Frau der Mutter gegenüber, die imaginär mit einem leeren Stuhl herbeigeholt wird und teilt ihr seine Erfahrung und sein Ziel mit.
Füreinander zur Ressource werden
„Was war Ihnen heute wichtig, wertvoll?“, frage ich oft am Schluss einer Sitzung. „Ich bin heute in meiner Blockade ein Stück vorangekommen und bin froh, dass Du mit dabei warst“, sagt der Mann aus Paar A. zu seiner Frau, und sie: „Ich habe Dich heute besser verstehen gelernt. Das tut mir gut. Ich spüre meine Liebe zu Dir wieder stärker. Und ich habe jetzt Geduld in unserem Problem.“
Wie arbeitet die Integrative Therapie mit Paaren?
Die Integrative Therapie folgt dem Paradigma der Methodenintegration (Glass et al. 1993, Norcross & Goldfried 1992, Lazarus 1995, Sponsel 1995) in einem Menschen-bild der Intersubjektivität, aufbauend auf zwischenmenschlicher Bezogenheit als Grundbedürfnis und Leiblichkeit als Wesensmerkmal des Menschen (Petzold 2002j, 2003a). Unsere Persönlichkeit entwickelt sich lebenslang in Kontakt, Begegnung, Beziehung und Bindung zu Andern, in Ko-respondenz, im ko-respondierenden Mit-einander. Was die Integrative Therapie tut, ist eingebettet in eine differenzierte ethische Orientierung: ein Engagement für Hominität und Humanität bringt Grundqualitäten des Menschlichen in die Therapiebeziehung und als Ziele in die Therapie: Wertschätzung, Empathie, Bestätigung und Förderung von Integrität und persönlicher Souveränität, Würde, Echtheit und Partnerschaftlichkeit (Gröbelbauer et al. 1999). Zugleich öffnet die ethische Orientierung den Blick für Sinnstiftung und Sinnerfahrung als Thema der Therapie (Petzold 2000k, Petzold & Orth 2004) und für Risiken der Therapie (Märtens & Petzold 2002).
Die Perspektiven und Wirkfaktoren Kognitiver Verhaltenstherapie, von Systemtherapie und humanistischer Therapie lehren uns, Probleme mit uns selbst und mit Andern in unserem Umfeld direkt anzugehen. Dysfunktionale Einstellungen, Erwartungen und Beziehungsmuster (Schemata, Strukturen oder Narrative) können erkannt und durch Übung verändert werden. In diesem gegenwartszentrierten Vorgehen bieten sich Selbstsicherheits-, Kommunikations- und Konfliktfähigkeitstrainings an. Wir lernen uns einzufühlen, aktiv zuzuhören, unsere Bedürfnisse zu artikulieren, Konsens zu finden und erhalten ein Handwerkszeug, um Probleme lösungs-, bewältigungs- (Grawe 2000) und performanzorientiert anzugehen (Sieper & Petzold 2002, Petzold et al. 2004). Wir lernen jedoch uns selbst und den geliebten Menschen an unserer Seite in seinem lebensgeschichtlichen Gewordensein, in alten Dramen, die wir nachspielen und Mustern, die uns festhalten, erst verstehen, wenn über den Fokus auf die Gegenwart hinaus die psychodynamische Perspektive hinzukommt und den Blick öffnet für das Nachwirken früherer Erfahrungen in uns und in unserer Partnerschaft (Petzold 2001a).
Therapie, ganz besonders Paartherapie braucht über diesen umfassenden Blick auf die Probleme hinaus wie Pflanzen das Sonnenlicht das Erleben und Fördern der Ressourcen und protektiven Faktoren (Petzold et al. 1993, Sulz 2000), die Ressourcenorientierung (Schemmel & Schaller 2003, Petzold 1997a) mit dem zentralen Kon-zept der Salutogenese (Antonovsky 1979, 1997, Lorenz 2004). Studien zeigen die Liebe als die stärkste gemeinsame Ressource für den Zusammenhalt eines Paares (Hahn & Burkart 1998, Riehl-Emde 2003, Willi 1991, 2002). Sie ist jedoch ein ver-nachlässigter Aspekt der Paartherapie. Jürg Willi initiierte in Zürich 2004 den ersten Kongress zum Thema „Paartherapie im Fokus der Liebe“. Der Begriff der Liebe findet sich selten in der Fachliteratur und in Ausbildungscurricula, offenbar weil er verglichen mit „Wertschätzung“ und „Respekt“ schwer operationalisierbar ist.
Paartherapie verändert sich, wenn Arbeit an den Problemen und Ressourcen und Achtsamkeit auf die Liebe zwischen den Partnern gleichzeitig im Mittelpunkt stehen. Integrative Paartherapie sucht, prüft und nutzt Strategien einer auf die Ressource der Liebe fokussierten Therapie.
Beispiel: Beim Paar B hat sich der Mann nach 20-jähriger Gemeinschaft getrennt, lebt seit 6 Monaten mit einer anderen Frau zusammen, möchte aber unbedingt zurück zu seiner Frau und den beiden adoleszenten Kindern. Sitzung um Sitzung erklärt er ihr wie ein Geschäftsmann, wie sie sich verändern muss, damit er zurückkommt. Einmal nehme ich ihn beim Wort und lade seine Frau ein, vor ihm auf die Knie zu sinken und ihm die Erfüllung all seiner Bedingungen zu versprechen. Sie spürt meinen Humor und fleht ihn demütig und selbstlos an: „Ich will mich selbst und meine Wünsche ganz auf die Seite schieben und ganz so sein, wie Du mich möchtest, Liebster, ich will mich aufopfern, so wie ich es in all den Jahren getan habe“. Nun wird er ärgerlich gegen mich, gegen sie, dann wird er verwirrt.
Wenige Wochen später entdeckt er rote Rosen bei ihr und erfährt, dass sie sich jetzt ab und zu mit einem anderen Mann trifft, weil „er mich so annimmt, wie ich bin und mir Geborgenheit gibt.“ Sie liebe diesen Mann bis jetzt nicht wirklich, sondern ihn, ihren Mann, sagt sie, wird jedoch von ihm heftig beschimpft. Ich schlage beiden vor, die Augen zu schliessen, auf den Atem und die Körperempfindungen zu achten. Sie nehmen einen Schmerz in der Herzgegend wahr. Mit Doppeltechnik schlage ich beiden den Satz vor: „Es tut mir weh, wenn Du mit Jemand Anderem schläfst.“ Sie blicken sich in die Augen, stimmen zu und sagen es einander. „Was sagt Ihr Herz jetzt?“ „Ich will nicht, dass Du mit einem Anderen schläfst“ Ich: „Könnte es sein, dass Euer Herz sagt: Ich möchte Dir nicht wehtun?“ Sie wagen diesen Satz. Er macht sie still und berührt. Nach einer Weile ohne Worte sagt die Frau, sie möchte ihr Leben und ihre Identität wie ein Haus mit einem schönen Garten einrichten und das Gartentor sorgsam öffnen für Menschen, die als Gast kommen und darauf achten, dass ihre Blumen nicht zertrampelt werden. Ich schlage ihr vor, genau dieses Haus mit dem Garten im Therapieraum einzurichten. Sie nimmt farbige Tücher, Kissen, einen Teddy und setzt sich mitten hinein, mit geradem Rücken. Zu ihrem Mann sagt sie: „Ich öffne Dir mein Tor und mein Herz, wenn Du mich respektierst.“ Ihr Mann steht in einigem Abstand in plötzlicher Bewunderung und sagt: „Du bist schön, Du gefällst mir in Deinem Garten.“ Er lernt zu erkennen, dass durch seine Frau seine Mutterwunde wachgerufen wird; sie erkennt, dass er ihre Vatergeschichte wachruft, die noch nicht gelöst ist. Trotzdem entschliessen sie sich nach einem Dutzend Sitzungen zu einer neuen Zeit der Trennung, weil sie sich fortdauernd voneinander verletzt fühlen und er seine neue Beziehung als Sicherheit beibehält. Ihre Liebe ist noch da, kann aber nur so aus den Verstrickungen entflochten werden.
Paartherapie soll entflechten, klären und lösen, was die Liebe und Liebesfähigkeit zwischen den Partnern stört und fördern, was sie wachsen lässt. Sie hilft ihnen, unter Schutt ihre gefährdete Orchidee wieder zu finden und zu ertasten, wie regenerationsfähig sie ist und was sie braucht.
Zu Beginn der Therapie wird von beiden Partnern in knapper Form Anamnese, aktuelle Lebenssituation, die eigene Sicht der Probleme und Ressourcen, der Gründe, Ziele und die eigene Motivation für die Therapie erhoben. Schon da zeigen sich interaktionelle Muster, die nachgefragt und in den Interaktionen weiter beachtet und aufgegriffen werden. Die vom Paar benannten Probleme und Ziele sind oft inkohärent mit jenen, die die Therapeutin aus der qualifizierten Aussenperspektive wahrnimmt. Die Frau will ihren Mann ändern, dieser kommt nur widerwillig mit und will nur sie ändern; Beide möchten, dass der Therapeut Partei für sie ergreift; sie möchte emotional, er intellektuell und strategisch vorgehen, usw.
Beispiel: Beim Paar C ruft der Mann an und sagt, er suche für seine Frau einen Therapieplatz, sie könne demnächst aus der Klinik austreten, wo sie wegen einer Psychose hospitali-siert sei. Ich lade Beide gemeinsam zur ersten Sitzung ein. Sie kommen sehr verschlossen, mit einer unsichtbaren Wand zwischen sich und schweigen betreten. Die Gründe und Ziele breiten Beide so aus, dass sie nun eine Nachbetreuung brauche. Ich spüre, dass viel Unterschwelliges da ist und nicht ausgesprochen wird. Ich benenne mein Empfinden und frage, ob das normal sei bei ihnen, dass sie schweigend im Auto nebeneinander sitzen, zuhause auf dem Sofa kaum reden? Da lachen Beide und der Bann ist gebrochen. Ich schlage ihnen dezidiert eine Paartherapie vor, sie sind bereit.
Wenn einer oder beide Partner eine psychische Störung mitbringen, zum Beispiel Alkoholabhängigkeit, Depression oder Suizidalität, dann sind störungsspezifische Massnahmen indiziert: Krisenintervention, Prüfung der Indikation einer stationären Therapie und von Psychopharmaka. Wir können um Erlaubnis zur Einsicht in die Krankengeschichte bzw. in Austrittsberichte bitten und auch die Anwendung von Testverfahren kann angemessen sein, sie muss jedoch einem von Anfang an konstruktiven und heilsamen Beziehungsgeschehen untergeordnet werden, in dem sich beide Partner vom Therapeuten als gleichwertige Menschen gesehen, angesprochen und behandelt fühlen. In der Klinik laden wir immer die nächsten Angehörigen ein und wenn die Patientin oder der Patient in einer Partnerschaft lebt, ergibt sich ergänzend zur Einzeltherapie meistens eine Paartherapie.
Beispiel: Das Liebste auf der Welt war für eine unserer chronisch schizophrenen Patientin-nen ihr Freund, der selber dieselbe Krankheit hatte und seit Monaten in einer anderen Klinik hospitalisiert war. Die ungefähr 60-jährige Frau strahlte immer wie ein Kind, wenn sie uns sah, musste aber auch viel weinen; ein uralter Seelenschmerz lastete auf ihr. Ich besuchte mit ihr mehrmals ihren Freund, wir suchten und fanden für sie einen Platz in einem Pflege-heim, das bereit war, später auch ihren Freund aufzunehmen, nahe am Wohnort ihrer uralten gebeugten Mutter, die mit dieser Lösung auch glücklich war.
Nach zwei bis drei Sitzungen kann durch die Synergie zwischen Trialog und dem Einbezug des interaktionellen Geschehens ein vorläufiger Therapieplan erstellt werden (Osten 2000, Leuenberger 2005), der danach in der rollenden Planung in Form der prozessualen Diagnostik über die ganze Therapie weiter moduliert und feinreguliert wird. Er enthält eine Verknüpfung der verschiedenen Probleme wie jene mit Geld, Arbeit, Freizeit, sozialem Netz, Kindern und vernetzt diese mit den erkannten Beziehungsproblemen und –mustern so, dass funktionale Bedeutungen deutlich werden: sind zum Beispiel die Probleme der Kinder Folge der Beziehungsmuster des Paares? Ist das soziale Netz dürftig, weil extreme Eifersucht bei einem der Partner besteht oder weil Beide ihre Probleme nach aussen hin verbergen möchten? Die Zielabfolge im Therapieplan (Ambühl & Strauss 1999, Petzold et al. 1998) ergibt sich aus dieser Analyse der Funktionalität und bezieht dazu die Anliegen und die Bereitschaft der Partner ein.
Von da an sind uns als Therapeuten die individuellen Probleme und Ressourcen, die Beziehungsmuster und gemeinsamen Ressourcen und die vereinbarten Therapieziele präsent und sie werden im Gespräch auch immer wieder benannt und validiert. In jeder Sitzung beginnen wir aber mit dem, was an Problemen, Mustern und Ressourcen phänomenologisch jetzt gerade aktiviert ist und in Erscheinung tritt: ausgehend von dem, was beide Partner erzählen, was ihre Körpersprache sagt (Petzold 2002j), was sie unmittelbar erfahren beim Erzählen und in der Achtsamkeit auf ihre Körpersprache, führen wir sie zu einem vertieften Wahrnehmen, Erfassen und Verstehen, immer entlang ihrer unmittelbaren Erfahrung. Diese umfasst emotionale, leibliche und zwischenleibliche Komponenten ebenso wie kognitive, bewusste wie unbewusste. Die in Erscheinung tretenden Phänomene sind das im Ozean der zwei Seelen gerade aufblitzende Leben, und sie führen ein Paar genau auf seinem inneren Lernweg, wie ein Walpaar Rücken an Rücken. Das erste Ziel dieser phänomenologisch-tiefenhermeneutischen Arbeit ist Bewusstseinsarbeit, denn üblicherweise ist ein Paar in gegenseitigen Beschuldigungen verstrickt, jeder erlebt sich als Opfer und den An-dern als Täter und jahrelang wurde Wesentliches voreinander verschwiegen.
Beispiel: Die Frau aus Paar D wirft ihrem Freund vor, er sei zu wenig da für sie und auf sein Congaspiel sei sie richtiggehend eifersüchtig. Sehr rasch kritisiert sie ihn, kann dabei auch aggressiv und zurückweisend werden. Er fühlt sich ständig ungenügend, bemüht sich, warmherzig zu sein und ihr alles zu geben, was sie möchte, ist aber doch immer wieder verletzt durch ihre Kritik und zieht sich dann in sich zurück. In einem dieser Momente führe ich ihn zur Achtsamkeit auf sein Körpererleben. Er spürt einen Druck auf der Brust und den Impuls, sich abzuwenden. Zu diesen Empfindungen und Emotionen findet er Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend (Petzold 1999i, 2002j): seiner leidenden Mutter sollte er immer beistehen, doch beide Eltern lebten in Distanz zu ihm, liessen keine Nähe zu und er fühlte sich alleingelassen. Nun erkennt er, dass das Leben mit seiner Freundin diese alten Verletzungen aktiviert.
Im Gefühl, er sei für sie zu wenig da, spürt seine Freundin, wie sich ihr Hals zuschnürt und zu diesem Körpererleben stösst sie auf eine Erinnerung als 6-Jährige: sie sitzt am Tisch, möchte etwas erzählen, doch der Vater sagt, Kinder reden nicht am Tisch. Sie fühlt, wie schmerzlich sie vom Vater zurückgewiesen wird, wie sehr ihr das Gefühl fehlt, bei ihm aufgehoben zu sein, wie oft sie sich danach sehnte und dies immer vermissen musste. Auch sie erkennt, dass ihr Freund diese Wunde wachruft (Bowlby 1995).
„Wie fühle ich mich jetzt – wenn dieses Problem erscheint?“ ist einer der ersten Schritte der Bewusstseinsarbeit, die in der Therapie unmittelbar erfahren werden sollen (Petzold 1995).
„Wie erlebe ich dieses Problem jetzt körperlich?“ Die Achtsamkeit soll vom Partner als Täter zu sich selbst als Lernendem wechseln. Auch Männer, die strategisch und rational arbeiten möchten, sind zu diesem und den folgenden Schritten fähig, wenn Psychoedukation sie ihnen strategisch und rational verständlich und einleuchtend macht und wenn Raum da ist, um die Erfahrungen rational zu verstehen und einzuordnen.
„Wie reagiere ich bis jetzt, wenn dieses Problem erscheint?“ diese Frage führt über die Achtsamkeit auf die Gefühle, die Körperempfindungen, Körperreaktionen und die Kognitionen allmählich zu einem umfassenden Wahrnehmen, Erfassen und Verstehen der eigenen Schutzmechanismen: es wird erfahrbar, wie Körper und Psyche sich vor erwarteter Verletzung schützen, welche Emotionen diese Erwartung begleiten und welche Haltung dem Partner gegenüber benutzt wird, um diesen Schutz zu finden. Beide Partner können erkennen, wie destruktiv sich ihr Selbstschutz- bzw. „Defence“-Verhalten auswirkt: innere Emigration, Resignation, Opfer-Täter-Denken können als eigener Beitrag zu den Beziehungsproblemen verstanden werden.
„Was bewirke ich mit meinem Schutzverhalten bei Dir?“ diese Frage lehrt ein neues Stück Empathie und unterstützt die Einsicht in die eigene Rolle, den eigenen Anteil an den Beziehungsproblemen.
„Wann habe ich mich genau so gefühlt wie jetzt?“ diese Frage führt, wenn die unmittelbare Erfahrung des Problems emotional, leiblich und kognitiv deutlich wird, leicht zu Erfahrungen aus der Lebensgeschichte, die prägend waren.
Die Partner lernen, einander ihre Erfahrungen aus diesen Bereichen mitzuteilen. Es fällt nicht leicht, Aussagen über den Andern fallen zu lassen und nur jene über sich und sein eigenes Erleben mitzuteilen. „Ich spüre, dass Du mich nicht verstehst, dass Du mich nicht mehr liebst“, solche Aussagen werden anfangs meistens gemacht, die das Opfer-Täter-Denken fortschreiben wollen. Wohlwollendes aber klares therapeutisches Lenken führt die Partner etappenweise zur Fähigkeit, einander das eigene Erleben mitzuteilen:
„Wenn du Zeit für dich brauchst und Conga spielst, fühle ich mich allein gelassen, habe Angst und bin traurig. Es schnürt mir den Hals zu und mein Herz tut weh. Ich fühle mich dann gleich wie als Kind bei meinem Vater. Ich mache mich hart und greife dich an.“ „Ich habe eine lieblose Seite, mit der ich dich schon oft verletzt habe. Sie kommt hervor, wenn ich Angst habe.“ Zu solchen Mitteilungen kann Bewusstseinsarbeit führen; um die Kommunikation jedoch nicht zu überfrachten, üben wir auch einfache ehrliche Aussagen: „Ich habe Angst, dass Du mich verlassen wirst, weil mir die Beziehung zu Deinem Kind (aus der vorherigen Beziehung) bisher nicht gelingt.“ Therapeutisch wirksam ist jeder Schritt hin zur Bewusstheit des eigenen Erlebens, des eigenen Anteils am Beziehungsproblem und die ehrliche offene Mitteilung darüber an den Andern. Auf diesem Weg lernen Beide, sich selber besser wahrzunehmen, zu verstehen und ebenso den Andern
„Was kann ich jetzt lernen?“ „Wie will ich mich weiter entwickeln?“ mit solchen Fragen werden beide auf den Weg zur selbstverantwortlichen Veränderung begleitet. „Ich will diese alte Wunde in mir heilen“, „Ich will meine lieblose Seite beachten und handhaben lernen, meine Angst spüren und lösen lernen und mit dir darüber sprechen“, „Ich will ohne Schuldgefühl mein Hobby vertiefen“. Entwicklungsbereitschaften können bewusst und benannt werden und die Partner können erkennen, wie ihre Ziele zueinander passen. Was möchten sie jenseits der Problembewältigung in sich an Potenzial zur Entfaltung bringen? Sind beide fähig zur selbstverantwortlichen Entwicklung und fühlen sich dabei voneinander respektiert und unterstützt, im ihrem Wesen erkannt?
Es ist ein riskanter Weg, denn das Opfer-Täter-Denken ist tief eingefleischt. „Du machst immer wieder dasselbe mit mir wie mein Vater, ich halte das nicht mehr aus, ich überlege mir, ob ich mich von Dir trennen soll.“ Das betreffende Paar trennte sich tatsächlich. Meine Intention war, der Frau schrittweise erkennen zu helfen, dass das Leben ihr diesen Freund zugespielt habe, damit ihre alte Wunde hervorkommen könne, um geheilt zu werden, und dass sie mit jedem Entwicklungsschritt seine Zeit für sich selbst nicht mehr als Gefahr und Verletzung erleben werde. Ebenso arbeitete ich mit ihrem Freund, aber die Angst vor der eigenen, in der Beziehung immer wieder aktivierten alten Wunde war grösser als der Mut, der Wille und die Zuversicht, sie in der Beziehung zu lösen (Jerusalem & Schwarzer 1989, Petzold 2001i, Petzold, Sie-per 2003). Beide kamen anschliessend allein in Therapie und arbeiteten an ihren Problemen. Nach drei Monaten fanden sie wieder zusammen.
Psychoedukation in Verbindung mit Selbsterfahrung intendiert also, den Partnern die gegenseitige Mitteilung ihres eigenen Erlebens zu ermöglichen, ihren eigenen Anteil am Beziehungsmuster zu erkennen und den geliebten Menschen als Chance zu dessen Lösung und zur eigenen Persönlichkeitsentwicklung zu sehen. Alles was dazu beitragen kann, den Andern als Chance für die eigene Weiterentwicklung zu sehen, muss sorgfältig erwogen und einbezogen werden: das Timing der einzelnen Schritte der Bewusstseinsarbeit, die gemeinsamen Ressourcen, Abbau der Angst vor dem eigenen Problem, Möglichkeiten entdecken und ausprobieren, es in der Beziehung zu lösen und dabei die Unterstützung durch den geliebten Menschen erfahren. Beide Partner werden im „Sense of coherence“ (Antonovsky 1979, 1997) unterstützt: die Beziehungsprobleme zu verstehen, sie als bewältigbar zu erfahren und darin einen Sinn für sich zu erkennen (Petzold 2000k, Petzold & Orth 2004), ebenso ihre Entwicklungswünsche und –Ziele zu erkennen, sie soweit wie möglich als in dieser Beziehung realisierbar einzuschätzen, die dadurch sinnvoll wird. Beide brauchen Hilfe zum Selbstwirksamkeits-Erleben bezüglich der eigenen und gemeinsamen Probleme, Ressourcen und Selbstverwirklichungspotenziale (Bandura 1977, Flammer 1990).
In verletzenden Erfahrungen unserer Kindheit und Jugend bilden wir Beziehungsmuster als generalisierende Programme, deren Zweck es ist, uns vor solchen Verletzungen in Zukunft zu schützen. Wir wurden als Kind zum Beispiel mit Liebesentzug bestraft und gedemütigt (Edelmann 1987), wenn wir wütend, unangepasst oder traurig waren, nun befürchten wir, dasselbe geschehe wieder in der Liebesbeziehung und wir verhalten uns so, dass tatsächlich das Risiko einer Zurückweisung erhöht ist. Die Programme und unser meist destruktives Selbstschutzverhalten führen uns zwangsläufig ins Nachspielen genau der alten verletzenden Szenen.
Corina, 24, wuchs mit einem Alkoholikervater und einer Putzzwanggestörten Mutter auf, die Eltern stritten ständig und schrien einander an, das „Nachzüglerli-Kind“ fühlte sich allein und machte sich gleichgültig. Nun hat sie mehrere „teilnahmslose Freunde“ gehabt, die sie nicht richtig lieben konnte und glaubt, ein höheres Wesen wolle sie bestrafen.
Die Therapie der Natur besteht darin, dass wir als Partner unbewusst genau jene Person wie mit einem Lasso einfangen, die uns weiterbringen kann. Die geliebte Person bringt unsere tiefsten Ängste und Verletztheiten ans Tageslicht. Medien und Kultur vermitteln stark die Vorstellung, mit dem richtigen Partner sei die Liebe mehr oder weniger problemlos und immer schön. Hartnäckige Probleme nähren sehr bald Trennungsgedanken. Die Frau aus Paar D war fixiert darauf, von ihrem Freund zuwenig Zuwendung zu bekommen und gab sich immer mehr der Vorstellung hin, ein anderer Mann könnte ihr mehr Liebe geben. Ihre Motivation war vor allem darauf gerichtet, Liebe zu bekommen, viel weniger darauf, Liebe zu geben, denn sie verbrachte viel Zeit damit, ihn zu kritisieren und fand das angebracht. „Wollen Sie einen Mann, der Ihnen Ihren Mangel aus der Kindheit füllt, so dass Sie es nicht selber machen müssen?“ „Nein, aber einen, der mir nicht dasselbe Gefühl gibt, wie ich damals hatte“. Wenn wir nicht wollen, dass unsere tiefen ungelösten Probleme und Entwicklungschancen in einer Liebe hervorkommen, dann bleibt uns nur, eine Beziehung zu finden, die nicht so tief geht. Partnerschaftliche Liebe ruft unsere tiefsten Ängste wach, weil sie auch unsere tiefsten Wünsche weckt (Cöllen 1993b, Willi 1991). Nicht regressive Verschmelzungswünsche nach intrauteriner Symbiose, sondern unser innerstes spirituelles Bedürfnis nach Progression hin zur Verbindung mit dem zeitlosen Ganzen. Das wird oft verwechselt. Allerdings sind solche Schritte der Progression in der Liebe erst möglich, wenn regressive Bedürfnisse gelöst sind.
Herr M., 30, ist wegen einer Phobie in Einzeltherapie und bringt seine Freundin in eine Sitzung mit. Sie haben sich schon mehrmals getrennt. Er möchte diese Liebe unbedingt behalten, war aber bisher ziemlich dependent; durch die Therapie konnte er grosse Schritte machen in Richtung erwachsen sein und Verantwortung tragen. Nun sagt seine Freundin, sie zweifle immer wieder, ob er der Richtige sei. Sie erhalte von ihm nicht, was sie sich im In-nersten wünsche. In der Achtsamkeit auf dieses Fehlende erlebt sie Trauer, Schmerz, Sehnsucht, fühlt sich ganz allein und empfindet körperlich einen wunden Bauch. Mit geschlossenen Augen und atmend führe ich sie zurück in ihrer Geschichte, immer achtsam auf ihr Körpererleben. Sie fühlt sich als kleines Mädchen mit der ganzen Sehnsucht nach dem Vater, den sie immer vergötterte, der ihr aber kaum Zeit, Liebe und Zuwendung gab. Nun fühlt sie, was das kleine Mädchen in ihr möchte: „Ich möchte für Papa die kleine Prinzessin sein“. Tränen strömen. „Fehlt Ihnen das auch bei Ihrem Freund?“ „Ja, so sehr“. „Zweifeln Sie deshalb an ihm, weil er Ihnen das nicht gibt?“ „Ja“; „Jetzt öffnen Sie mal die Augen und schauen Ihren Freund an. Glauben Sie, er möchte ein kleines Mädchen als Frau?“ Da lachen Beide. „Wer könnte jetzt dem kleinen Mädchen in Ihnen helfen?“ „Papa“; „Wer sagt das, die erwachsene Frau oder das kleine Mädchen? Prüfen Sie mal, wenn Sie jetzt zu Papa gehen und ihn bitten, Ihnen endlich das zu geben, was Ihnen immer gefehlt hat, könnte er es Ihnen dann geben?“ „Nein“. „Wer könnte dem kleinen Mädchen dann jetzt helfen, wenn Papa und Ihr Freund es nicht können oder möchten?“ so entdeckt sie, dass sie als Erwachsene dem kleinen Mädchen in sich diese Hilfe geben könnte. „Und wer kann Sie dabei unterstützen?“ „Carl, mein Freund“. Schliesslich kann sie zu ihm sagen: „Ich will lernen, mich selber zu lieben und die Wunde meiner Kindheit heilen. Ich übernehme dafür die Verantwortung, aber ich wünsche mir, dass Du mich dabei unterstützen kannst, ohne Papa zu sein.“ Er bejaht strahlend. Ein halbes Jahr später berichtet er im katamnestischen Gespräch, sie hätten es seit der Paarsitzung viel besser miteinander und möchten jetzt eine Familie gründen.
Frau F. kommt wegen Zwangsgedanken in Therapie und bringt in einer der ersten Sitzungen den Mann mit, den sie bald heiraten wird. Sie vermeidet den Kontakt zu Putzmitteln und ihr Freund macht alle entsprechenden Arbeiten. Nun erzählt sie ihm Details ihrer Krankheitsgeschichte, die ihm neu sind. Er zeigt so viel Verständnis, dass ich hellhörig werde und im Wissen, ihn nicht bald wieder zu sehen, ihm durch doppeln folgendes Versprechen an seine baldige Frau vorschlage: „Du darfst immer krank bleiben, ich helfe Dir immer“. Er bejaht das fröhlich und verspricht es ihr. Sie ist glücklich. „Können Sie zusammen mit Ihrem Körper eine Skulptur formen, die darstellt, was jetzt versprochen wurde?“ Sie setzt sich auf seinen Schoss und legt ihre Arme um seinen Hals. „Ist das schön so?“ „Oh ja!“ rufen Beide. „Fällt Ihnen etwas auf? Irgendwelche Alarmglocken?“ Nichts. „Wenn Sie sich vorstellen, das geht so weiter bis ins Altersheim?“ Allmählich dämmert es ihnen, dass sie nicht bis zum dritten Gebiss krank bleiben und er ihr nicht bis zur Inkontinenz helfen möchte.
Um aus dem Machtkampf herauszufinden, der Folge der Opfer-Täter-Rollen oder der Helfer-Bedürftigen-Rollen ist, wird in der Therapie
- jeder Partner an seine eigene unmittelbare Erfahrung herangeführt, indem er oder sie ihre Gedanken, Gefühle und die dazu gehörenden Körperempfindun-gen wahrnimmt
- ausgehend von dieser Erfahrung werden jene lebensgeschichtlichen Prägungen ins Bewusstsein geholt, die das gerade aktivierte Beziehungsmuster gebildet haben
- diese emotionale, kognitive und leibliche Erinnerung führt zur Bewusstheit des eigenen Anteils am aktuellen Beziehungsproblem; Projektionen können abschmelzen und zurückgenommen werden
- prägende Erfahrungen aus der Vergangenheit können in Gegenwart und in der Unterstützung durch den Partner oder die Partnerin bearbeitet werden, so dass Empathie wachsen kann. Die gegenseitige Unterstützung in Gruppen- und Paartherapie ist ein Spezifikum der Integrativen Therapie
- mit der Bewusstheit über das eigene anstehende Problem kann die Selbstverantwortung übernommen werden
- mit diesen Schritten können beide Partner lernen, die Opfer-Täter-Rollen zu ersetzen durch Offenheit, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, gegenseitiges Einfühlen und Unterstützen. Die Kunst, Beschuldigungen in Bitten und Wünsche zu transformieren. So können sie einander näher kommen und ihr Bekenntnis zueinander stärken.
Beide Partner haben einen eigenen Anteil an jedem Beziehungsproblem. Es hat sich bewährt, dass Beide sagen lernen, „ich habe dieses Problem kreiert, ich übernehme dafür die volle Verantwortung“ (Hendricks & Hendricks 2004).
Beispiel: Die Frau aus Paar A geht zuerst davon aus, dass das Problem von zuwenig Sex nur das Problem ihres Mannes sei. Nach der eingangs beschriebenen Sitzung fühlt sie sich in dieser Annahme bestärkt. In der nächsten Sitzung erzählt ihr Mann jedoch, dass er oft sehr erschrecke, wenn sie ihn beim Sex plötzlich wegstosse, schlage und heftig beschimpfe. Auf seine Schilderung antwortet sie erklärend und hebt dabei plötzlich beide Arme waagrecht vor sich. Ich lade sie ein, diese Bewegung nochmals zu machen, die Arme so zu behalten und die Flüche auszustossen. Sie schliesst die Augen, kommt rasch in heftiges Atmen. Ich führe sie im Atmen in ihre Geschichte; sie fühlt sich klein und wehrlos, der Vater kommt ihr nahe, sie ruft „ich will nicht“, dann muss sie ausblenden. Ich führe sie zurück in die Gegenwart und sie stellt sich neben ihren Mann und gegenüber ihrem imaginär gegenwärtigen Vater und spricht zu diesem: „Ich weiss noch nicht, was ich mit Dir erlebt habe als kleines Kind, aber diese Nähe hat mir nicht gut getan. Hier siehst Du meinen Mann. Er gibt mir die Wärme und Geborgenheit, die du mir nicht geben konntest.“ Eine Analyse ihrer Vorwürfe an ihren Mann zeigt ihr zudem, dass sie immer genau dann plötzlich mit Wut und Vorwürfen gegen ihn loslegt, nachdem sie es eine Zeit lang ganz gut hatten zusammen. Nun stossen beide auf die Frage: wie können wir eine schöne intensive gemeinsame Zeit abrunden und integrieren, ohne sie durch einen Streit kaputtzumachen?
Das Erlernen einer guten Balance zwischen Nähe und Distanz, zwischen gemeinsamer und je eigener Lebensgestaltung, Weiterentwicklung und die gegenseitige Achtung und Unterstützung darin ist fast in allen Paartherapien ein wichtiges Thema.
Achtsamkeit (Hanh 2002a) und Mitteilen des eigenen emotionalen und leiblichen Erlebens und kognitiven Geschehens, der dabei wach werdenden Erinnerungen, Ein-sichten und Entwicklungsziele und die Übernahme der vollen Verantwortung; diese Schritte können ein Paar aus gegenseitiger Abhängigkeit und Verstrickung herauslösen und in ein Ko-Engagement führen, das mitten im Problem die Liebe wachsen lässt. Die Partner lernen diese Schritte in den Sitzungen anhand des jeweils aktuellen Problems und üben sie danach zuhause.
Beispiel: Das Paar A kommt wieder nach einem Streit in die Sitzung. Er erzählt, wie ihre Vorwürfe ihn ängstigen. Er zieht sich dann zurück und wird still, was sie noch mehr ärgert. Körperlich erlebt er jetzt ein Zuschnüren im Hals und das Gefühl zu ersticken und ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Ich begleite ihn im verstärkten Körpererleben und führe ihn dann zu-rück in seiner Geschichte. Er legt sich auf eine Matratze, schliesst die Augen und findet sich als 4-jähriger Knabe auf dem Operationstisch zur Mandelentfernung. Die Maske mit dem Betäubungsgas wird ihm auf das Gesicht gedrückt. Er wehrt sich, der Arzt beschimpft ihn. Nun überfluten ihn heftige Konvulsionen, die von seiner Frau durch liebevolle Berührungen und Worte begleitet werden. Nach ihrem Abklingen öffnet er die Augen und erkennt, dass seine Frau vor Berührtheit weinen muss. Ich gehe aus dem Raum, nach einigen Minuten innigem Zusammensein holt sie mich wieder herein. Nun gehen wir das ganze nochmals durch, angefangen bei ihrem Streit und dem anschliessenden Rückzug. Er kann jetzt zu ihr sagen: „Wenn du böse bist zu mir, dann weckst Du diese Wunde bei mir. Ich will sie lösen und übernehme dafür die Verantwortung, aber ich bitte Dich, mich dabei zu unterstützen.“ Sie sagt zu ihm: „Ich sehe jetzt, was ich auslöse in Dir, wenn ich Dich beschimpfe; ich will Dir nicht wehtun, ich fühle mich Dir jetzt sehr nahe.“
Der Einbezug des leiblichen Empfindens und Erlebens erleichtert es enorm, Zugang zu den eigenen Gefühlen zu finden und zu den passenden, gerade jetzt subliminal aktivierten Erfahrungen aus der Lebensgeschichte, die das gerade jetzt aktivierte Beziehungsmuster prägten. So vernetzt die Integrative Therapie die Arbeit an beziehungsrelevanten Schemata mit der Leiblichkeit und der Lebensgeschichte und bringt ihre Inhalte in die zwischenmenschliche Bezogenheit, in die intersubjektive Korrespondenz des Paares.
In der Literatur wird eine gesunde Streitkultur empfohlen (Cöllen 2003). Nach Guggenbühl (2004) sind „Mann und Frau in vielen Bereichen total verschieden, deshalb gibt es in allen Beziehungen immer wieder Streit“. Psychotherapie muss wesentlich geschlechtersensibler werden (Krause-Girth 2004), aber sie darf Beziehungsproble-me nicht auf Kliches über Genderprobleme reduzieren, vor allem darf sie einem Paar nicht die Idee einer unüberwindbaren Kluft zwischen ihnen vermitteln. Meine Erfahrung mit Paaren zeigt wesentlich mehr trennenden Einfluss durch die ineinander greifenden individuellen Beziehungsmuster als durch Genderprobleme. Es gibt mehr einfühlsame und selbstreflektive Männer als je. Bi- und homosexuelle Frauen und Männer berichten in der Therapie über dieselben Beziehungsprobleme, Ängste und Verletzungen.
Wenn Streit verstanden wird als Auseinandersetzung mittels gegenseitigen Beschuldigungen, emotionaler Gewalt und Stressphysiologie, dann kann es keine gesunde Streitkultur geben. Auseinandersetzungen, die dem Machtkampf und der Opfer-Täter-Rollenverteilung folgen, können nicht gesund sein. In der Zeit der frühen Gestalttherapie und der Encounterbewegung liess man Paare ihre Wut aufeinander durch Schlagen auf Kissen ausdrücken. Angestaute und verdrängte Wut sollte erfahren und abgebaut werden. Heute weiss man, dass Stauabbau von Aggression nur kurzfristig erleichternd ist, ähnlich wie Alkoholkonsum zum Angstabbau, dass das Problem damit aber nicht gelöst ist. Intersubjektivität und ethische Orientierung der Integrativen Therapie gehen einen Schritt weiter: wir sind verpflichtet, Würde und Integrität unserer Mitmenschen zu achten. Wir können lernen, in unseren Beziehungen Destruktivität nicht zu unterdrücken, jedoch zu transformieren durch Achtsamkeit, Verantwortungsübernahme und durch Kommunikationsformen, wie sie in diesem Text zu beschreiben versucht werden:
- wir brauchen die Fähigkeit zu geballter Energie, wenn wir Zeuge von Missbrauch und Gewalt sind, und manchmal müssen wir unser Leben mit geballter Energie konstruktiv anpacken und weiterbringen
- wir können lernen, Wut zu erleben und als „reinigendes Gewitter“ auszudrücken, ohne emotional gewalttätig und kränkend zu werden, ohne den Andern wegzustossen und unter Achtung seiner / ihrer Würde
„Ich bin jetzt wütend, weil Du unsere Abmachung zum zweiten Mal nacheinander nicht eingehalten hast, ich will mich auf Dich verlassen können.“
Ein Paar kann rote Clownnasen oder streitende Puppen für seine Streitkultur etablieren: Jean-Paul Gonseth (1990) hat die Technik gelehrt, dass jeder Partner mehrere Puppen nimmt, eine zum Beispiel für seine Angst, eine für Kälte, eine für die Wut, ei-ne für die Weisheit, etc.. dann müssen sie bei jeder Aussage spüren, welche Puppe das jetzt sagt und sie verwenden. Das dramatische Spiel distanziert uns von unserem Problem, intensiviert jedoch gleichzeitig dessen Erleben und Ausdruck, weil es unse-re Abwehr umgeht und direkt von Seele zu Seele spricht. Es gibt Humor dazu (Titze et al. 1994) und nimmt dem Konflikt von seiner Destruktivität, weil diese zum Spiel wird.
- wir können lernen, Impulse von Gewalt, Hass und Verachtung, unsere dunklen Seiten innerlich zu spüren und anzuerkennen, ohne sie in Handlungen auszudrücken. Fritz Perls hat vom Buddhismus eine Perle übernommen, die er das Paradoxon der Veränderung nannte: wenn wir ein bedrohliches Gefühl wahrnehmen und annehmen, geschieht Veränderung. Unseren inneren Keim von Weisheit können wir giessen und stärken. Dort steht der Kapitän auf dem Schiff seiner Psyche und sieht liebevolle und lieblose, angstvolle und gewalttätige Seiten sich auf Deck frei bewegen, ohne das Schiff von seinem Kurs im Licht abzubringen.
- die eigene Wut kann wie ein schreiendes Baby (Hanh 2002b, c) umarmt und mit achtsamem Atmen verbunden werden, wenn sie nach Ausdruck drängt
- hinter der Wut liegt oft Angst und alte Verletztheit, die Partner lernen können wahrzunehmen, zu erfassen, zu verstehen und sich gegenseitig mitzuteilen (Hendricks & Hendricks 2004).
- auch Angst und alte Verletztheit können umarmt werden, wenn sie in einem Streit hervorkommen.
- Wenn Angst in einer Imagination als bedrohliche Gestalt erfahren wird und wir diese mutig und ehrlich bitten: „ich will mich Dir öffnen, bitte führe mich“, dann verändert sich die Gestalt augenblicklich und wird zum freundschaftlichen Lehrer.
- hinter Wut, Angst und Verletztheit, jenseits von Schmerz und Verzweiflung erscheint Liebe, oft grösser und tiefer als alle Probleme, und sucht ihren Weg zum Anderen.
Beispiel: Das Paar A kommt wieder mit ihrem sexuellen Problem in die Sitzung. Alles bisher Gelernte sei gut, aber es ändere nichts an der Tatsache, dass es ihr einfach an leidenschaftlichem Sex fehle, sagt sie. „Ich möchte tagsüber öfters von Dir erotisch berührt werden, dass ich sexuelle Erregung spüre und ich möchte erleben, dass sich die Spannung steigert und wir leidenschaftlichen Sex haben, bei dem ich auch mal von Dir gefesselt werde und andere spannende Spiele geschehen“. Er sagt: „Ich berühre Dich gern, aber es muss nicht gleich erotisch sein“ und ergänzt: „Ich brauche es, dass sich der Wunsch nach Sex bei Beiden gemeinsam entwickelt“, und „Ich funktioniere anders als Du, es sind zwei Welten“. Ich dopple: „in uns begegnen sich zwei Kontinente, Afrika und Indien“. Sie bejahen es, fühlen sich gesehen und erleichtert. Ich dopple sie: „ich bin in Afrika geboren und bin mit dem Schiff weit über das Meer gereist. Unterwegs hatte ich Sex mit allen Piraten und Matrosen, dann sind wir in Indien an Land gekommen. Am Ufer stand ein halb weiser 50-jähriger Mann mit einer Schale Reis und mit so viel Liebe, dass mein Herz im Innersten berührt wurde“. Sie habe sich selten so verstanden gefühlt wie in diesem Bild. Dann sagt er zu ihr: „Wir leben im Sex auf zwei verschiedenen Kontinenten. Aber ich möchte Dich deswegen nicht verlieren, weil ich Dich so liebe“. Beide bekommen Tränen. Sie sagt: „Ich möchte Dich deswegen auch nicht verlieren, ich liebe Dich auch so tief“. „Was könnt ihr jetzt machen?“ ist die nächste Frage. „Bisher habt ihr einander diese Unterschiedlichkeit übel genommen und so zwischen euch eine Wand gesetzt. Ihr habt nicht mehr miteinander gesprochen“. Nun entdecken sie, dass sie ihre Unterschiedlichkeit respektieren und miteinander regelmässig über ihre Gefühle sprechen können. Einander zuhören. Das wollen sie nun zuhause mehrmals pro Woche tun. In die nächste Sitzung kommen sie mit dem Entschluss: sie wird im kühlen England an einem Meditations-Retreat teilnehmen, während er allein Ferien in den Tropen macht.
Integrative Paartherapie mit dem Fokus auf Intersubjektivität und auf die Ressource der Liebe versucht, Paare durch destruktive Emotionen und Kognitionen hindurch auf dem Weg ihrer Liebe zu begleiten: verschüttete, verletzte, verlorene oder verloren geglaubte Liebe. Sie setzt nicht nur darauf, dass sich die Liebe durch Lernprozesse in der Therapie wieder ergibt, sondern macht sie auch direkt zum Thema und intendiert ihre unmittelbare Erfahrung. Häufig führt dieser Weg über die Konfrontation mit der grössten Angst:
Beispiel: Der Mann aus Paar C, dessen Frau in der Klinik war, sagt ihr bald nach Beginn der Paartherapie: „Ich spüre seit Jahren keine Liebe mehr zu Dir; ich weiss nicht, ob ich Dich überhaupt je geliebt habe. Du bist dick geworden und ich schäme mich für Dich in der Öffentlichkeit“. Nach diesen Worten sitzt er lange Zeit versteinert und starr in seinem Sessel und ich lade seine erschreckte weinende Frau ein, sich dieses Bild anzuschauen, die schrecklichen Worte nochmals innerlich zu hören und führe sie dann zurück in ihre Geschichte. Sie sieht sofort ihren Vater auf dem Sofa liegen, depressiv, immer Schonung und Rücksicht verlangend, ganz in sich versunken. Das kleine Mädchen möchte zu Papa und stösst auf eine Wand. Für jeden lauten spielerischen lebendigen Impuls muss sie sich schuldig fühlen, ja sie muss lernen, sich für das Unglücklichsein ihres Vaters ganz und gar schuldig und verantwortlich zu fühlen. Dann führe ich sie wieder in die Gegenwart zurück. Sie schaut ihren Mann an und sagt zu ihm: „Du bist wie mein Vater“ Ich schlage ihr vor: „Du weckst in mir meine Wunde mit dem Vater“. Sie bejaht, so fühle sich der Satz besser an und fährt fort: „bis jetzt habe ich Dich immer geschont. Ich habe geschwiegen zu Deiner fehlenden Liebe, ich habe es geschluckt und nur an mir gezweifelt“. Nun wird sie wütend und lebendig. „Was können Sie jetzt machen, um ihre Wunde zu heilen, wenn Sie dafür die Verantwortung übernehmen?“ Ich zeige ihr die Techniken der Selbstbeelterung mit einer Puppe als Symbol des verletzten Mädchens, das sie einmal war. Zuhause will sie nun jeden Tag dem kleinen Mädchen Schutz und Liebe geben, so wie sie es auch gegenüber ihren drei kleinen Kindern macht (Chopich & Paul 2003). „Und was wollen Sie tun, wenn Ihr Mann so wie jetzt dasitzt zuhau-se, wie eine Mumie im Altersheim?“ da lachen Beide, er kommt aus seiner Starre hervor.
In der nächsten Sitzung tauschen wir im Rollenspiel ihre Rollen. Er muss sich mit Kissen dick machen, sie flanieren und sie schämt sich jetzt für sein dick sein. Das bringt Beide zum Lachen, einer ihrer auffallenden gemeinsamen Ressourcen. Danach sitzt sie wie eine Mumie und sagt, sie spüre keine Liebe, „wie kann eine Mumie Liebe spüren?“ durch solche Interventionen und Spiele wird in beiden positive Vitalität wach.
Eine Woche später will er bei sich schauen, was los ist. Ich führe ihn in die Achtsamkeit auf sein Körpererleben im starren stummen Sitzen. Von hier aus gehen wir zurück in seine Geschichte, und er sieht sich als Knabe am Esstisch sitzen mit Vater, Mutter und Schwester. Niemand spricht, Totenstille, depressiver Ernst und bleierne Schwere drücken ihm Brust und Hals zu. Er legt sich jetzt auf die Matratze und seine Frau berührt sanft seinen Hals und seine Brust. Im verstärkten Atmen erlebt sie mit, wie tief vergrabene Angst, totales Alleinsein aus seiner leiblichen Starre hervorströmen. Er weint und spricht zu den Eltern „ich brauche eure Wärme und Liebe, ihr seid so tot und so schwer, es tut mir so weh“. Das ergreift auch seine Frau. Als ich ihn zurückführe, öffnet er die Augen und sieht ihren liebevollen Blick und ihre Tränen. „Was sehen Sie jetzt im Blick Ihrer Frau? Ist er gleich wie der Ihrer Eltern am Esstisch?“ Er könne keinen grossen Unterschied sehen, ihre Tränen könne er nicht verstehen.
In der nächsten Sitzung gehen wir nochmals an seine Themen. Was denkt wohl seine Mutter laut über ihren Sohn, wenn sie am Waschtrog in der Küche steht? Er spielt sie und spricht: „Mein lieber Peter, er ist ein Armer, er leidet so wegen seiner Frau, sie beherrscht ihn total“. Nun spiele ich entsprechend meinem Wissen und meiner Intuition die Mutter, er kniet neben ihr und lehnt seinen Kopf an sie. Mutti sagt: „mein kleiner Peter, ich habe Dich so lieb, du bist mir das Wichtigste, ich fühle mich Dir näher als meinem Mann“. Er bestätigt, so habe er es empfunden. Als Mutter fahre ich fort: „Ich gebe Dir für immer meine ganze Liebe“. Nun fragen wir, wie sich eine solche Mutterbotschaft und -Beziehung auf den Sohn auswirke? Er erzählt, es sei wirklich das Schönste für ihn gewesen, seiner Mutter so nahe zu sein, ihr beizustehen und dafür so viel Liebe zu erhalten. „Und was ist jetzt, wenn die Mutter noch immer so spricht, wenn sie am Waschtrog in der Küche steht, und der Sohn hat eine so wunderschöne Erinnerung an ihre Liebe? Kann er dann Liebe zu seiner Frau empfinden und zu ihr stehen?“ Nun spielen wir Mutter und Frau, die ihn beide lieben und je zu sich auf ihre Seite ziehen wollen. Ich spiele die Mutter, klammere mich an ihn, schreie mein Alleinsein heraus und verspreche ihm das tiefste Glück, wenn er nur zurückkomme zu mir, steigere das, bis er aus der Umklammerung ausbricht und weggeht von der Mutter. Nun steht er wörtlich und leiblich zu seiner Frau. Er setzt seine Eltern auf leere Stühle gegenüber in grosser Distanz. Er spürt ihr Leiden an ihrer Liebe wie eine dunkle Wolke über den beiden, ist aber froh, dazu jetzt erstmals eine Distanz zu empfinden und fühlt sich seiner Frau ungewohnt nahe. „Sagen Sie Ihren Eltern, was Sie spüren“. Er spricht: „Ich spüre, dass Ihr leidet, aber ich will damit jetzt nichts mehr zu tun haben.“ Ich schlage vor: „Ich wünsche Euch, dass Ihr Eure Liebe noch verbessern könnt, es ist Eure Verantwortung“. Er kann einen Keim dieses Wunsches in sich empfinden. Dann stellt er den Eltern seine Frau vor. „Wollen Sie zwischen sich und Ihrer Frau die Wand und die innere Distanz weiterführen wie bisher, so wie es bei Ihren Eltern ist?“ Nein! er wolle seiner Frau jetzt näher kommen! Er blickt ihr in die Augen und sagt ihr das. „Was soll sie tun, wenn Sie wieder versteinert und stumm auf dem Sofa sitzen?“ „Sie soll mich herausholen“, „Wer ist verantwortlich dafür, dass Sie da herauskommen?“
Eine Woche später kommen sie fröhlich in die Sitzung. Sie habe ihn aufs Bein geklopft, wenn er schweigend und deprimiert dagesessen sei, sagt sie und lacht. Er sagt, das Schimpfen seiner Frau habe ihn irgendwie geweckt, er spüre jetzt seine Liebe zu ihr, sie sei ganz verschüttet gewesen.
Unbewältigte schmerzliche Erfahrungen stehen der Entwicklung der Liebe in der Partnerschaft im Weg, weil die Partner aus Angst vor wiederholter Verletzung mit ihren Schutzmechanismen tatsächlich die alten Szenen nachspielen. Eine solche an frühere ungelöste Erfahrungen gebundene Liebe kann nur abhängig und verstrickt sein, sie erstarrt in Enttäuschung oder Resignation, erstickt in zementierten Vorwürfen oder bleibt auf einem niedrigen Niveau stecken. Die Motivation in einer solchen Liebe ist vor allem auf das Bekommen von Liebe gerichtet. Beide wünschen vom Andern mehr Liebe zu bekommen und beide sind unerfüllt in ihrem Wunsch. Wenn Partner das Wachwerden ihrer ungelösten Probleme in der Partnerschaft nicht annehmen können, ziehen sie sich innerlich zurück und kompensieren die fehlende Nähe und Liebe oft mit einem ihrer Kinder, aber auch dort ist ihre Motivation vor allem auf das Bekommen von Liebe gerichtet, wenn es vordergründig auch anders aussieht. Das Kind muss geben, um zu bekommen und es lernt, sich für das Unglücklichsein seiner Mutter, seines Vaters schuldig und für das Glück verantwortlich zu fühlen, das trotz seinen ständigen Anstrengungen nie erreicht wird.
Wenn ein Paar zu Beginn der Therapie gleich Probleme im Sex, mit den Kindern, dem Geld, der Arbeit und Freizeit oder den Nachbarn zu bearbeiten wünscht, so führt die Arbeit über diese Themen ziemlich schnell zu ihrer Paarbeziehung. Umgekehrt führt der Weg, wenn anfangs gleich an Beziehungsthemen gearbeitet wird und dort spürbare Verbesserung eintritt wie im letzten Beispiel:
Nachdem der Mann die Liebe zu seiner Frau wieder zu empfinden beginnt und beide sichtbar lockerer wirken, nennen sie zwei Nachbarschaftsprobleme, eines schon seit Jahren sehr belastend. Es zeigt sich, dass sie als Familie stark auf diese Belastungen fokussiert sind und passiv erleidend kaum wohltuende Kontakte zu anderen Menschen pflegen. Im Rollenspiel spielen sie die unauffällige Schweizer Familie, die schimpfend durch die sauberen Fenster über den gepflegten Garten zu den bösen Nachbarn schaut. Ich spiele den fettleibigen nackten Nachbarn auf der Sonnenterrasse gegenüber und räkle mich provokativ, bis die Frau aufspringt, herüber stürzt, den Dicken anschreit und ihm endlich Grenzen setzt. Diesen Impuls aus der leidenden Starre in die Vorwärtsbewegung greifen wir auf und sie planen, wie sie generell mehr Bewegung, Aktivität, positive Kontakte und Schwung in ihr Leben bringen können.
Dieses ausführlicher dargestellte Fallbeispiel verdeutlicht, wie die Integrative Paartherapie verbunden mit der Achtsamkeit auf das Körpererleben, auf Emotionen, Kog-nitionen, Erinnerungen und deren Mitteilung an den Andern weitere kreative Methoden und Techniken einbezieht, um die unmittelbare Erfahrung zu aktivieren und für den Lernprozess des Paares nutzbar zu machen: neben üblichen Rollenspielen und Expositionstechniken sind es Theatertherapie (Iljine 1972, Müller-Weith et al. 2002, Petzold 1990), Psychodrama (Moreno 1946), Gestalttherapie, kunst- (Petzold, Orth 1990) und bewegungstherapeutische (Petzold 1996a) Methoden und Techniken, die zum vielfältigen Repertoire der Integrativen Therapie gehören.
Ich arbeite auch mit dem Integrativen Entspannungsverfahren der "Isotorik" (Vouttha-Voss 1997), das muskuläre, respiratorische und mentale Ansätze der Relaxation vernetzt und diese bei Bedarf mit aktiver Imagination verbindet (Kast 1988, Reddemann 2002). Lange imaginierten in der Paartherapie die Partner für sich und berichteten einander anschliessend ihre Erfahrungen. Dann stiessen wir auf Möglichkeiten gemeinsamer Imaginationen: allmählich sehen beide vor dem inneren Auge dasselbe Geschehen. Es ist tief berührend, wenn beide erleben, wie sie den Weg zueinander über eine tiefe Schlucht suchen, gemeinsam einer von Licht umgebenen Gestalt oder einem Tier begegnen und Antwort auf ihre innersten Fragen erhalten.
Antworten weiser Wesen in Imaginationen sind so eindrücklich knapp, tief und wesentlich, dass ich begann, in der Therapie einen Weg zu suchen, der sie auch ausserhalb von Imaginationen erfahrbar machen kann. Wenn Partner einander Gedichte schreiben, sie einander vorlesen oder vorsingen, Märchen und andere Texte zusammen lesen und über Puppen miteinander sprechen, werden sie sensibel für die Sprache der Seele (Cöllen 1993b). Die Bücher des vietnamesischen Mönchs Thich Nhat Hanh wurden mir wertvoll (Hanh 2002a,b,c). Er lebt eine Sprache des Herzens vor, die auf derselben Ebene schwingt wie jene in den Imaginationen. Ich versuche sie durch meine Persönlichkeitsentwicklung zu lernen und Paare in ihrem Erlernen zu unterstützen, ergänzend zu den beschriebenen Schritten gewaltfreier und selbstverantwortlicher Kommunikation. Diese Sprache geht direkt in jene tiefe Schicht der Psyche, die jenseits von Wut und Beschuldigung liegt. Sie führt den Blick auf die Orchidee unter dem Schutt. „Was sagt Ihr Herz jetzt gerade, wenn Sie hinhören?“ Oft fällt es schwer, diese Stimme zu hören. Mit meiner Empathie versuche ich, diese Schicht im Mann und in der Frau zu erfassen, taste nach einem oder wenigen schlichten Sätzen, die ihr und ihm gerade jetzt von Herzen kommen könnten. Ich stelle sie wenn Unterstützung nötig ist als Frage oder biete sie mit Doppeltechniken an. Doppeln ist Aktivieren unbewusster Prozesse, hier eine Anfrage an den innersten Kern mit der Einladung, sie zu korrigieren, wenn sie nicht stimmt. In der Regel werden diese Sätze bejaht, ergänzt und führen zur Begegnung von Herz zu Herz, schmerzlich, beglückend oder beides zugleich. Ich achte darauf, dass der innere Prozess dadurch nicht verformt wird. Kein Lernschritt soll harmonisierend übersprungen werden. Aber die Sprache des Herzens und der Weisheit eröffnet ein Potenzial für die Therapie, das bislang noch kaum erschlossen und erforscht ist. Beim Lesen darüber entsteht leicht ein Nachgeschmack von Kitsch wie bei Schlagertexten. Die Therapie bleibt von ihm verschont, da sie das Authentische sucht.
Diese dichte therapeutische Empathie und die damit induzierte Tiefe der Begegnungen im Setting der Paartherapie führen zu Fragen der Therapiebeziehung.
Aspekte der Therapiebeziehung in der Paartherapie:
In Paartherapien sollen die Probleme, Muster, Ressourcen und Entwicklungsschritte soweit wie möglich prozessual aktiviert werden (Grawe 2000), so dass sie sich live in der Dyade zwischen Mann und Frau abspielen; aber sie erweitern sich um je die Dyade Mann-Therapeutin und Frau-Therapeutin zur Triade. Wir sollen das Beziehungs- und Übertragungsgeschehen simultan in diesen drei Dyaden erfassen und zugleich in guter Weise lenken können. Grundvoraussetzung dazu ist die therapeutische Kompetenz, beide Partner als Person genau gleich wertzuschätzen. Das klappt nicht immer von selbst. Ein deutliches Gefälle in der Persönlichkeitsentwicklung oder aggressives Verhalten des einen rufen nach einem aktiven Schritt der Empathie, dann gelingt es. Erst auf dieser Basis können wir die in den drei Dyaden geschehenden Übertragungen und Projektionen für Beide als Paar therapiewirksam handhaben.
„Sie sind im Sex wie mein Mann“, sagt die Frau aus Paar A mit ihren zwei unterschiedlichen Bedürfniswelten. „Immer muss ich anfangen, während Sie meinen Mann kneifen lassen“. Ich musste mich auch schon entschuldigen bei einer Frau, die sich über einige Sitzungen hinweg von mir weniger unterstützt fühlte als ihr Mann, denn die beiden „B“ der Übertragungsarbeit, Biografie und Beziehung, schliessen diese Möglichkeit dezidiert ein im Sinne von Wertschätzung und Partnerschaftlichkeit.
Paartherapeuten und -Therapeutinnen müssen Liebhaber der prozessualen Aktivie-rung sein und diese auch in komplexer Form lenken und metaperspektivisch im Auge behalten lernen (Sulz 2000). Ein Vermeidungsbedürfnis gegenüber dem Live-Auftritt der Paarprobleme ist eine Kontraindikation gegen die Durchführung von Paartherapien. Dieses komplexe Beziehungs- und Übertragungsgeschehen braucht viel mehr als die störungsspezifische Einzeltherapie über das curricular erlernte Expertenwissen hinaus unsere eigenen aus Partnerschaften gewachsenen Kompetenzen und Performanzen. In einer eigenen schwierigen Liebesbeziehung wurde ich hautnah mit vitalen Themen konfrontiert. Genau diese Themen meiner Selbsterfahrung wurden parallel in den Paartherapien aktuell. Das Leben scheint uns jene Paare zuzuspielen, zu deren Thematik wir aus gewachsener Selbsterfahrung substanziell beitragen können. Seit ich erfahren habe, dass auch eine ins jeweilige Innerste gehende Liebe ersetzbar ist, ja dass sie trotz ihrer Tiefe aufgelöst werden muss, wenn sie auf Dauer schädlich ist, fällt es mir leichter, bei Paaren mit einer grossen Liebe die Möglichkeit einer Trennung aufzugreifen, wenn ihre Verletztheit nicht verringert werden kann. Wenn mit allen Mitteln für Beide kein Kohärenzgefühl und kein wohlwollender Blick aufeinander erreichbar sind, vereinbaren und planen wir eine Zeit der Trennung oder ich begleite die Partner bei ihrer endgültigen Trennung, wenn sie das wollen (Meier et al. 2002, Vaughan 1988).
Paartherapie braucht nicht nur die Themen unserer Selbsterfahrung als Matrix zur kompetenten Begleitung, sondern auch unsere an den Themen gewachsene Empa-thiefähigkeit. Themen des Paares, die ins Herz treffen, und die Liebe tut das immer, rufen nach unserer eigenen inneren emotionalen Resonanz. Paartherapie im Fokus der Liebe und der Liebesfähigkeit verlangt die Liebesfähigkeit der Therapeutin, des Therapeuten.
Liebesfähigkeit und Spiritualität:
Die Therapie kann einem Paar nur helfen, voneinander mehr Liebe zu bekommen über die Entwicklung der Liebesfähigkeit beider Partner als Motivation und Kompetenz, Liebe zu geben. Solange die Motivation auch nur bei einer der beiden Personen vor allem die ist, mehr Liebe zu bekommen, kann die Beziehung nicht wachsen, sie bleibt abhängig und verstrickt. Ein chronisches Mangelempfinden an Liebe und Zuwendung weist auf Selbstwertprobleme hin, auf Selbstunsicherheit oder Selbstablehnung. Solche Personen können aufgrund ungelöster früher Bindungserfahrungen sich selbst nicht liebevoll annehmen und nähren (Bowlby 1995). Die Paartherapie kann ihnen ermöglichen, die Liebesfähigkeit synchron sich selbst und dem Partner gegenüber zu entwickeln. Dazu dienen die Einzelarbeiten mit ihr oder ihm, bei denen sie sich gegenseitig Zeuge sind und sich im inneren Prozess unterstützen. Die Therapie ist ein fein dosiertes Angebot, eine grosse Chance und eine Herausforderung für die Persönlichkeitsentwicklung beider Partner. Hendricks & Hendricks (2004) nennen sechs Verpflichtungen, die Partner auf dem Weg von einer abhängigen zu einer ko-engagierten Beziehung eingehen können. Sie passen gut zur Ziel- und Performanzorientierung der Integrativen Therapie (Sieper & Petzold 2002, Leuenberger 2005):
- ich engagiere mich für Nähe und ich verspreche, alles in mir zu beseitigen, was meiner Fähigkeit zur Nähe im Wege steht
- ich engagiere mich für meine vollständige Entwicklung als Individuum
- ich engagiere mich dafür, mich in meinen Beziehungen ganz zu zeigen und mich nicht zu verstecken
- ich engagiere mich dafür, dass die Menschen um mich herum ihre volle Stärke besitzen und nutzen
- ich engagiere mich dafür, aus dem Bewusstsein heraus zu handeln, dass ich selbst hundertprozentig die Ursache für meine Realität bin
- ich engagiere mich dafür, in meinen engen Beziehungen viel Freude zu haben.
Ergänzend unterstützen sieben Fragen den Problemlösungsprozess:
- wie fühle ich mich?
- Was will ich?
- Wie beeinflusst die Vergangenheit meine Gegenwart?
- Was ist mein Gewinn davon, dass ich stecken bleibe?
- Was muss ich sagen?
- Welche Vereinbarungen habe ich nicht eingehalten?
- Wie kann ich dem anderen behilflich sein?
Gelingt zwei Liebenden die Übernahme der Selbstverantwortung und sind beide vom Willen (Petzold 2001i, Petzold & Sieper 2003), vom Mut und der Ausdauer zu ständiger Selbstentwicklung und koevolutiver Vertiefung ihrer Beziehung erfüllt (Willi 2000), dann verändert sich diese mit der Zeit fundamental. Mit jedem gelösten Hindernis lockert sich die Körpersprache und die Gesichter werden leuchtender. Es öffnet sich Raum für die individuelle wie für die gemeinsame Entwicklung und der vorher für Problembewältigungsversuche aufgezehrte Raum wird frei für gemeinsame Projekte und Interessen. Der Wunsch und die Fähigkeit, den wichtigsten Menschen zu lieben und ihm zu dienen, können immer weiter wachsen. Liebesbeziehungen können mehr erreichen als wir bis jetzt kennen.
Frau S., 70, ist wegen rezidivierender Depression in der Klinik. Ihr Mann kommt zu Paargesprächen. Er kann nach einem Sturz mit Hirnblutung nur mit einem Rollwagen gehen, ihr mussten wegen Brusttumor beide Brüste amputiert werden. Im Gespräch über ihre gemeinsamen Ressourcen berichten sie, wie wertvoll ihnen gemeinsame Theaterbesuche, Spaziergänge, einander Vorlesen, gemeinsames Kochen und Freunde einladen sind. Beim Thema Zärtlichkeit frage ich: „Können Sie einander noch Zärtlichkeit schenken oder sind die körperlichen Behinderungen ein Hindernis?“ Da lachen Beide vehement „Nein, über solche Äusserlichkeiten sind wir hinweg, wir erleben jetzt viel schönere Zärtlichkeiten als in jungen Jahren.“
Eine sich über Jahre vertiefende Liebe erfüllt spirituell, auch wenn kein spiritueller Bezug aktiv gepflegt wird. Die Fähigkeit Liebe zu geben wird von einer inneren Quelle gespeist, die jeder Mensch für sich entdecken und pflegen kann. Viele Beziehungen sind unglücklich oder enden, weil die Partner für sich diese Quelle nicht gefunden haben oder sie hermetisch gegeneinander abschliessen aus Angst vor Verletzung. Die innere Quelle und der Wille, die eigenen und gemeinsamen Probleme zu lösen, sind beide zum Gelingen und Wachsen einer Liebesbeziehung gleich wichtig. Warum gelingt eine Beziehung in der Zeit der Verliebtheit so spielerisch leicht? Wir denken an Projektionen: all das, was wir uns im Innersten wünschen, wird im geliebten Menschen gesehen, eingebettet in magisches Denken, dieser Mensch sei für uns geschaffen, und wir lieben somit vor allem unsere eigenen Vorstellungen. Ich halte diese Erklärung für ungenügend. In der Verliebtheit ist unsere Motivation, Liebe zu geben und wir können es spielerisch leicht, weil Liebe aus unserer inneren Quelle fliesst. Im Licht dieser Liebe sehen wir über Projektionen hinaus im geliebten Menschen das heile unantastbare Schöne seines Wesens. Wir werden in unserer eigenen inneren Schönheit gesehen und können sie dadurch erleben. Dann werden wir mit den Aufgaben unserer Persönlichkeitsentwicklung konfrontiert. Wenn wir sie wahrnehmen und bejahen, sie in der Beziehung anzugehen, finden wir die innere Quelle wieder. Mut und Wille zum Ja können wir wie die Liebesfähigkeit aus dieser Quelle immer wieder erneuern, wenn sie aufgesucht und gepflegt wird.
Wenn Liebende parallel zur Arbeit an ihren Entwicklungsaufgaben diese Quelle finden und füreinander öffnen können, kann ihre Beziehung reich und erfüllend werden. Eine konstruktive Liebesbeziehung fördert die persönliche Entwicklung beider, und je weiter beide in ihrer Entwicklung voranschreiten, umso grösser kann ihre Liebesfähigkeit werden (Willi 2002). Ein gemeinsamer ethischer, kultureller oder spiritueller Bezug und ein Engagement für Humanität und Ökologie können innerlich und äusserlich eine Quelle von Kraft und Liebe werden, die das Paar immer mehr verbindet.
Die Integrative Therapie unterstützt Menschen in ihren eigenen philosophischen und religiösen Werten. Aus Respekt vor Meinungspluralität hält sie sich zurück bezüglich spirituellen Lehren. Wenn Patienten und Klienten ethische, philosophische oder spirituelle Anliegen mitbringen, unterstützen wir sie, ihren eigenen Weg zu finden.
Beispiel: Thomas, 15, hat vor kurzem seinen Vater durch plötzlichen Tod verloren und im Alter von zwei Jahren schon seine Mutter. Wir gehen in den nahe gelegenen Wald. Er setzt sich ins Wurzelwerk einer grossen Buche und lehnt mit dem Rücken an ihren glatten Stamm. Leiblich empfindet er sich wie an den Vater kuschelnd und kann ihm alles sagen und weinen. Er ist sich gewiss, dass Vater und Mutter ihn unsichtbar mit ihrer Liebe begleiten. Ich bestärke ihn in diesem Vertrauen.
Wir beziehen nach Wunsch und Indikation künstlerische, spielerische, meditative, imaginative oder rituelle Übungen ein. Paare können ihre eigenen Rituale erfinden, um ihre Ziele zu festigen und das Erreichte zu feiern. Ich fördere Paare bei gemeinsamen Naturbegegnungen und begleite Visionssuchen. Die Erfahrungen dabei kommen aber aus ihren inneren Quellen. Wir unterstützen die Teilnahme am kulturellen Leben, vor allem begleiten wir Paare darin, ihre eigenen Ressourcen zu entwickeln, die ihre Liebe vertiefen.